Wir tun so, als wäre alles normal, sagt Oma zu Hause, und stellt ihre geliebten Engel aus dem Erzgebirge auf das Klavier.

Im Strandhotel wünschen wir uns alles andere als Normalität.

Normalität kann verstörend sein, hat irgendjemand irgendwann einmal gesagt.

Ums Strandhotel fliegen nachts schon die Engel herum.

Kleine und große, dicke und dünne, faule, fleißige, alberne und ernsthaftere Engel, aber alle sind sie auf ihre Art wunderschön.

Die Engel machen Verschnaufpausen auf den gusseisernen Balkongeländern, sie ruhen ihre müden Flügel aus, sie haben ihre Musikinstrumente mitgebracht, und beraten sich jetzt über die Aufstellung. Wer im Orchester am besten vorne steht. Wer dieses Mal die erste Geige, die zweite Bratsche spielt. Und wer auf die Pauke haut.

Zu Hause brennen am Sonntag überall erste Kerzen.

Nur weil heute schwarzer Freitag ist, hetzen die Leute wie wild durch die Fußgängerzone, wo eigentlich schon längst der Weihnachtsmarkt aufgebaut sein müsste. Sie stellen sich in Schlangen an, aber nicht um Karussellfahrten zu kaufen oder Grillwürste oder Glühwein.


Im Strandhotel stehen wir höchstens vor dem Süßigkeitenautomaten an, denn in der Nacht von Donnerstag auf Freitag wird er frisch aufgefüllt.

Wir wissen nicht von wem.

Zu Hause macht Fritz vorsichtig die Tür von Haralds Kühlschrank auf.
Er darf sie nur einen Spalt breit öffnen, damit das Licht im Inneren nicht angeht.

Er hält sein Ohr an den Kühlschranktürspalt und wartet darauf, dass endlich die Eichenblätter ein wenig rascheln.

Dann weiß er, dass es Harald gut geht.

Im Strandhotel steht am späten Nachmittag der Schnurrbart unten an der Rezeption. Er hält sich die Nase zu, weil unser Hund ihn mit einem üblen Geruch begrüßt.

Ich vermisse meinen goldenen Ehering, behauptet der Schnurrbart.
Der Herr Schnurrbart vermisst seinen goldenen Ehering, wiederholt unsere Nana so laut, dass man es bis in die oberen Etagen hören kann.

Sie baut sich vor dem Schnurrbart auf, bis Papa mit dem Ring kommt. Außerdem kommen die Oma, der Opa, der Opa R., ein paar Tanten und eigentlich alle Onkels, Mama, Viviane, Teona und Alois, Joseph, ich und natürlich alle Freunde und Gäste, die nicht verpassen wollen, was passiert, wenn Papa die Frage nach der Gravur stellt.

Papa stellt die Frage nach der Gravur.
Wir starren alle den Schnurrbart an.


Unser Hund ist schon wieder eingeschlafen, denn natürlich kann der Schnurrbart nicht den Namen der Braut und auch nicht den richtigen Hochzeitstag nennen.

Beim Frühstück in Papas Bistro sagt Joseph, dass er bis Weihnachten bestimmt noch irgendwann Corona kriegt.

Wir wissen nicht, wie er darauf kommt.
Und wieso bis Weihnachten?

Papa sagt zu ihm, er bekommt kein Corona.
Mama sagt, und wenn, ist das auch nicht schlimm!

Aber Joseph möchte nicht so lange zu Hause rumsitzen. Allein. Und niemanden zum Spielen haben.

Im Strandhotel sind wir nie allein. Aber wir gelangen heute nicht hin.

Papa hat einen Ring im Sand gefunden.
Neben und ein bisschen vor seinem rechten Fuß blitzte und funkelte plötzlich etwas Rundes .

Auf dem Plakat, das wir einmal unten in der Bucht und einmal beim Bäcker im Ort aufhängen, steht:

GOLDENER EHERING GEFUNDEN
Die Besitzerin oder der Besitzer kann sich in Ediths Strandhotel melden!

In Ediths Strandhotel strengen wir uns an.

Wir haben die Nase voll davon allein zu sein als Familie in einer Mietwohnung in einer mittelgroßen Stadt.

Deswegen schaffen wir Platz.

Opa fährt mit der Babette hinaus, so lange das Wasser noch warm genug ist, um –

Der Opa R. schimpft auf die Entschleunigungsprediger anderswo. Es gibt schließlich mehr zu tun als vorher.

Die Oma und die Nana räumen die Vorratskammer voll. Sie schauen, dass Grundnahrungsmittel säckeweise vorhanden sind. Für viele Mahlzeiten mit vielen Menschen.


Am Sonntagmorgen werden oben in der Bistroküche und unten gleichzeitig Pfannkuchen gebacken. Später dann feinste Lebkuchen nach einem Rezept ohne Mehl oben. Unten Ausstechplätzchen aus Mürbeteig.

Am Sonntagabend sind wir müde, sind wir endlich wieder MEHR. Und das soll in den kommenden Wochen bitte so bleiben.

Die Woche hätten wir auch geschafft.

Im Strandhotel kommen wir an den Freitagabenden in der Küche zusammen und essen, und trinken und reden und trinken.

Wir besprechen, was getan und was zu tun ist, wer am Wochenende was übernimmt.
Wie die nächste Woche aussieht.


Die Kinder schreiben wieder Listen, aber was da drauf steht, geht uns dieses Mal nichts an. Sagt Edith.

Wir sind ungern zuhause, weil die Realität kein Ort ist, an dem wir länger bleiben möchten als unbedingt nötig.

Wir steuern Ziele an, die kurz darauf einfach verschwinden. Wir können es nicht lassen in den Kalender zu schauen, obwohl wir wissen, dass alle Termine ausfallen. Wir beeilen uns nicht mehr, wir können nicht, warum sollten wir?

In Ediths Strandhotel falten die Kinder Papierflieger und lassen sie von der Terrasse segeln.

Später suchen sie draußen die Abhänge ab.

Unten in der Bucht Spuren von nackten Kinderfüßen im nassen Sand.

Für kurze Zeit.