Vol. 1 — Frühjahr 2020

In diesem leeren Frühling, der gerade erst beginnt,
bleiben wir in Ediths Strandhotel, wo es nach dem Aufwachen Marmeladentoast gibt.


Das Strandhotel liegt an einem Felsen hoch über dem Meer,
wir können uns morgens gar nicht satt sehen an dem ganzen Blau.
Bei uns zu Hause schafft es die Sonne immer nur kurz über die Dächer
der vierstöckigen Häuser hinein in den Innenhof.


Das Strandhotel ist den ganzen Tag und das ganze Jahr über voller Licht.


Im Strandhotel bei Edith bekommen wir den Toast gebracht und dösen mit einem Milchkaffee
so lange auf einer der Terrassen herum, bis wir Lust kriegen etwas anderes zu tun. Die Kinder schlüpfen allein in ihre Kleider, sie helfen sich gegenseitig, so schnell geht das, wie es zu Hause nie möglich wäre.

Überhaupt vergeht die Zeit jetzt anders, die Kinder haben ihre, wir haben unsere, und zusammen macht das ausnahmsweise mal mehr und nicht weniger Zeit.

Und es gibt auch mehr Platz. Es gibt immer einen freien Sessel zum Lesen, einen Tisch zum Schreiben, zum Zeichnen oder zum Memory Spielen. Es gibt den großen Speisesaal und die alte holzvertäfelte Bar, dann gibt es das Billardzimmer, das gleichzeitig auch das Zeitungszimmer ist, weil der Billardtisch voller italienischer und chinesischer und spanischer und südkoreanischer und französischer und japanischer und englischer und amerikanischer und deutscher und arabischer und portugiesischer und indischer und marokkanischer Zeitungen liegt, die unsere Gäste hier gelassen haben, damit wir sie abstauben können, von Zeit zu Zeit.


Es gibt Musik im Strandhotel, wann immer sich jemand von uns an den alten schwarzen Flügel setzt.
Da ist die Viola von Edith, deine Gitarre, Josephs Trommel und alle anderen Instrumente, wenn jemand sie spielen will.


Was es nicht gibt in Ediths Strandhotel, das sind Scharlach und Krupphusten und Angst vor dem Virus.
Es gibt keine Hausaufgaben, keine Trennungsgespräche mit Vorgesetzten und überhaupt keine Umzüge. Es gibt keine Hornhautentzündung mit Sehminderung, keine multiple Sklerose, keinen Streit wegen Kleinigkeiten wie Zähne putzen, oder Sich-nicht-ausreden-lassen, kein Türen knallen und keinen unangenehmen heißen Wind. Keine Quallen am nächsten Tag. Und erst recht keine Plastiktüten im Wasser.


Im Strandhotel ist das Aufräumen eine Leidenschaft ohne Meckern. Es macht viel Spaß, am späten Vormittag die Zimmer in Ordnung zu bringen, die dreckige Wäsche einzusammeln und das schmutzige Geschirr. Die Küche zu putzen, die Bäder zu schrubben, und es gibt so viele Zimmer, dass einige davon nach dem Aufräumen eine gute Weile aufgeräumt bleiben. Die Zimmer sind außerdem so eingerichtet, dass sie auch unaufgeräumt aufgeräumt aussehen. Weil da so viele Fächer in Schrank und Kommode sind, dass sich alles verstauen lässt und gerade so viel Platz auf dem Nacht- und Schreibtisch, dass Bücher, Notizen und Spielzeug liegen bleiben können.

Ich beziehe die Betten hier viel lieber als zu Hause, die gewaschenen Laken sind innerhalb weniger Stunden trocken, und riechen nach Sonne und Meer. Sie riechen so gut, die Laken im Strandhotel bei Edith.

Die Terrassen sind rötlich gefliesst unter dem blauen Himmel. Edith läuft barfuss so viel sie kann, sie singt und springt Seil oder schreibt stolz die Frühstücksbestellungen auf einen Zettel.

Opa muss sich noch ausruhen. Joseph hat keinen Husten mehr und kein Nasenbluten in der Nacht. Er flitzt überall herum, er klettert, er plappert, er lacht mit allen Zähnen, die er schon hat, oder sitzt auf einem der Korbstühle auf meinem oder deinem Schoß und nuckelt am Daumen.

Im Strandhotel können die Kinder allein mit dem alten Aufzug fahren. Der Aufzug geht hart am Felsen entlang direkt hinunter zum Strand, wo sie nach dem Frühstück im Sand buddeln oder Muscheln suchen, schöne Steine, oder andere kleine Sachen oder gar nichts, bis du mit ihnen schwimmen gehst. Oder die Oma. Oder der Opa R., wenn er nicht Schach spielt.

Opa R. ist nicht unser richtiger Opa, aber er ist fast immer dabei, wenn wir ihm einen Vorschlag machen. Das kann er besser als andere, der Opa R., einfach mitmachen, falls jemand einen guten Vorschlag hat. Er kommt sogar mit ins Gekko-Kino, wenn Joseph nach dem Abendessen plötzlich aufspringt, ruft und zeigt:

Gekko!


Im Strandhotel können Kinder Kinder und Erwachsene können erwachsen sein. Die Großeltern, also Oma, Opa, die Nana und Opa R, können sie selbst sein, genau so wie die Tanten und Onkel und Cousinen und Cousins und Freundinnen und Freunde und Kolleginnen und Kollegen und entfernte Verwandte und Bekannte und Nachbarn und völlig unbekannte Leute. Und einfach alle.

Im Strandhotel kann wirklich jeder machen, was er will, und jeder wird gebraucht, so wie er ist.