Vol. 2 — Herbst/Winter 2020/21

Noch drei Tage, drei Päckchen am Adventskalender, drei mal unruhig schlafen.

Noch zwei Tage bis Weihnachten und Joseph hat mittags plötzlich 39,5° Fieber.

Das bedeutet zu Hause, dass wir noch mal mit allen telefonieren müssen, mit denen wir schon in den letzten Tagen dauernd telefoniert haben.

Im Strandhotel bedeutet 39,5° Fieber nur, dass jemand oder eben Joseph 39,5° Fieber hat.

Heute können wir endlich sagen MORGEN.

Morgen ist Weihnachten. Zu Hause, in Ediths Strandhotel und überall auf der Welt, wo die Leute sonst noch Lust darauf haben.

Im Hotel ist in diesem Jahr längst nicht allen nach Weihnachten, und wer nicht will, der lässt es. Wir haben Flure, da ist absolut alles frei von Weihnachten, dann gibt es ganze Etagen, da weihnachtet und weihnachtet und weihnachtet es …

Dieser Tag wird bei uns schon am Morgen „Heilig Abend“ genannt.
Schon immer, obwohl wir mit der Heiligkeit nie viel zu tun hatten. In diesem Jahr ist es mit der Heiligkeit so wie so nichts, mit der Müdigkeit umso mehr. Wir müssen an so vieles denken. Die Vorbereitungen sind kompliziert.

Im Strandhotel feiern wir zusammen.

Es gibt in diesem Winter keinen Ort wie diesen. Es gibt überhaupt keinen Ort, der für alle offen ist.


Wir geben uns deshalb besonders viel Mühe.


Die Geschenke werden auf den Treppenstufen in der Eingangshalle abgelegt.
Es sind in der letzten Nacht noch mal sehr viel mehr geworden. So viele, dass Opa und der Opa R. gar nicht mehr aufhören können die Köpfe zu schütteln. Eigentlich schütteln alle Großeltern und Eltern und Tanten und Onkel und die meisten Erwachsenen ein bisschen die Köpfe über diesen Überfluss.
Große und kleine Päckchen liegen auf den Stufen, auf halber und vor der Treppe auf dem Marmorboden. Verpackt in glitzerndes Papier und mit breitem Geschenkband verschnürt.

Das Christkind und der Weihnachtsmann zeigen sich vom Kopfschütteln unbeeindruckt, für sie ist die Sache klar: Es gilt, den vielen Kindern Freude zu machen, Wünsche zu erfüllen, und dabei nicht gesehen zu werden.


Die Kinder sind mit einer großen Thermoskanne Kakao unten am Strand.

Sie nehmen den Fußweg und nicht den alten Fahrstuhl. Es ist eine richtige Kinderschar, die bei Einbruch der Dunkelheit zum Strandhotel hinaufklettert. Ein Glöckchen hat geklingelt.

Oben spielt schon die Musik. Danach singt es von allen Balkonen, es klatschen glückliche Hände. Es ist überall Freude, Kerzenlicht, Glitzer, Gläserklirren, Tellerklappern, junges, mittleres und altes Lachen.

Und auch wer vorher keine Lust auf Weihnachten hatte, muss immerhin sagen:

Ediths Strandhotel leuchtet.

Am ersten Feiertag sind wir alle damit beschäftigt, die Geschenke auf die verschiedenen Etagen, in den verschiedenen Fluren, in den einzelnen Zimmern zu verteilen. Jede und jeder nimmt ein neues Spielzeug, ein Buch, ein Tischchen, eine Nachtischlampe, ein irgendwas mit aufs Zimmer.


Edith hat jetzt einen Sitzsack auf der Nummer 13.

Wir essen Schildkrötenkekse.


Am zweiten Weihnachtsfeiertag liegen noch einmal Päckchen auf den Stufen. Wir backen und singen schon wieder. Alois singt selber mit. Er singt:

Happy Birthday tu jut, happy Birthday tu jut.

Wir singen: Happy Birthday lieber Alois, happy Birthday to you.

Und jetzt wird es wirklich ruhig.

Nach den Vorbereitungen auf die Feiertage, nach den Feiertagen selbst, folgt ein Sonntag.
Zu Hause verlängert dieser Sonntag sich auf unangenehme Weise in die ganze letzte Woche des Jahres hinein. Die Zeit, die wir


zwischen den Jahren


nennen, ist so schwer oder so leer, dass alle wieder zu planen anfangen. Wer wird mit wem und vor allem zu wievielt ein Raclette oder Fondue in welcher Wohnung …

Im Strandhotel schauen wir aufs Meer.


Wir haben keine Zeit zu verschenken und hören nicht hin, wenn der Schnurrbart das ganze 2020 verflucht.

Es war immerhin unser Jahr, sagt Edith.

Wir geben es nicht verloren, denn für viele ist es das erste oder das letzte gewesen.

Zweimal die 20.